Der Anfang einer neuen Seite

Das Scheitern von Beziehungen ist zum Alltag geworden. Umso wichtiger, dass die Betroffenen gut damit umzugehen wissen. Das heißt vor allem: sich Zeit für den Abschied nehmen.

Eine Welt bricht zusammen

Eine Frau „kündigt“ ihre Beziehung. Sie selbst kommt einigermaßen gut damit zurecht; sie hat es ja so gewollt oder zumindest als bessere Lösung für sich akzeptiert, weil ihr dieser Schritt als einziger Ausweg aus einer unbefriedigenden Beziehung erscheint. Und den schmerzhaften Abschiedsprozess hat sie schon vorher durchgestanden. Für ihren Partner dagegen bricht eine Welt zusammen. Er will die Trennung nicht wahrhaben; seine Emotionen und Gedanken sind verschleiert, er glaubt sich in einem Albtraum und wünscht, bald daraus aufzuwachen. Vielleicht reagiert er sogar körperlich mit psychosomatischen Beschwerden. Er klammert sich an jeden Rest Hoffnung auf Versöhnung und neigt dazu, Tatsachen zu ignorieren und zu verleugnen; sein Zugang zu Gefühlen wie Wut und Trauer ist versperrt, solange er auf Wiedergutmachung hofft. Seine unrealistischen Hoffnungen, verbunden mit vergeblichen Bemühungen um weiteren Kontakt, enttäuschen und verletzen ihn immer wieder aufs Neue. Trotzdem kann er vorerst nicht davon ablassen, die Partnerschaft zu idealisieren.

Gefühle zulassen statt zuschütten

Lots Frau erstarrt zu einer Salzsäule, weil sie das Verlorene nicht aufgeben will: Schon die Bibel weiß von den nachteiligen Folgen des hoffnungslosen Festhaltens. In die Trauer um den Verlust mischt sich dabei die Angst vor dem Unbekannten:

„Angst vor dem Neuen bewirkt oft starres Festhalten an den bisherigen Vorstellungen, bisherigen Bildern von sich und den anderen“, schreibt die anerkannte Schweizer Familientherapeutin Rosemarie Welter-Enderlin. Die Angst lässt uns in Stagnation verharren, in der wir mögliche Handlungsspielräume kaum erkennen und wahrnehmen können.

Dabei erzwingt unsere Entwicklung immer wieder aufs Neue Ablösungsprozesse. Oft müssen wir uns befreien von Vertrautem und Gewohnheiten, um weiterzukommen, sei es durch bewusste eigene Entscheidungen, sei es durch Ereignisse, die uns „von außen“ aufgezwungen werden und – scheinbar? – keine Gestaltungsmöglichkeit lassen.

Wie also kann es uns gelingen, gut Abschied zu nehmen?

Abschied nehmen heißt vor allem: dem Trauerprozess Raum geben, sich auseinander setzen mit Emotionen, persönlichen Lebensvorstellungen, bisherigen Erfahrungen und Grenzen. Und neben den Gefühlen von Leid, Verlust, Verlassenheit, Aufgeben, die sich aufdrängen, gilt es zunehmend auch die andere Seite wahrzunehmen: Entlastung, Erlösung, Zuwachs von Freiheit und Autonomie.

Die erste Voraussetzung dafür ist die Einsicht in die Realität des Endes. Allein das erfordert oft einen Prozess von der Leugnung der Wirklichkeit im Versuch, die vergangene Lebensphase festzuhalten, über einen schmerzlichen Tiefpunkt zum Verstehen unserer Emotionen und zur Akzeptanz der neuen Situation. Erst dann kann die notwendige Vergebung gelingen, die uns offen werden lässt für eigene Pläne und einen Neuanfang.

Das Wissen über die verschiedenen Phasen des Trauerprozesses kann helfen, den jeweiligen eigenen Standort zu bestimmen. Wir können dabei unseren Fortschritt erkennen und gewinnen daraus den Mut, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen und die erforderliche Zuversicht für den Neubeginn aufzubauen. Wissen müssen wir dazu auch: Die einzelnen Phasen dieses Prozesses folgen nicht säuberlich getrennt nacheinander; manches vollzieht sich auch parallel, rationale Einsichten „im Kopf“ können in Widerspruch zu den Gefühlen „im Bauch“ geraten, „Rückfälle“ sind jederzeit möglich. Allerdings verschieben sich mit der Zeit die Schwerpunkte: weg von der anfänglichen Erstarrung hin zur Akzeptanz und einem neuen Aufbruch.

Zusammenleben hinterfragen

Intellektuell heißt die erste Aufgabe, das Zusammenleben der letzten Zeit zu hinterfragen: Wie war unser Vertrauensverhältnis? Konnten wir den Partner respektieren, sein Anderssein akzeptieren? Wie haben wir Konflikte gelöst? Haben wir uns beide wirklich wohl gefühlt?

Allerdings werden solche Überlegungen anfangs überwuchert von Gefühlen, die sich mit aller Wucht aufdrängen. Angst und Wut machen sich breit. Wir spüren Verzweiflung und Einsamkeit, fühlen uns minderwertig und ungeliebt. Aber auch Schuldgefühle ergreifen uns. Alltagspflichten fallen uns schwer, Zukunftspläne haben keine Gültigkeit mehr. Wir erleben den Verlust von ehemals gemeinsamen Gewohnheiten und Sicherheiten; vertraute Rollen als (Ehe-)Paar lösen sich auf, Freunde ziehen sich zurück. Die wirtschaftliche Existenz, die Wohnung – was wird aus mir?

Alle diese massiven Gefühle gilt es zuzulassen statt sie – zum Beispiel durch Suchtverhalten – zuzuschütten. Denn dahinter verbirgt sich eine Botschaft, die wir richtig entschlüsseln und bewusst für eine Veränderung nutzen müssen: eine innere Reise zu uns selbst, die zwar Geduld erfordert, bei der wir uns aber besser kennen lernen und eine Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ finden.

Einfach im Auto mal laut schreien

Auch Wut und Aggressionen haben in dieser Phase ihren Platz, sind jetzt sogar besonders nützlich. Es sind Lebensenergien, die uns schon beim Erwachsenwerden geholfen haben. Sie aktivieren uns, treiben durch ihre Kraft unser Handeln an. Wut und Liebe schließen sich gegenseitig aus, weil wir sie nicht gleichzeitig empfinden können; sie helfen deshalb beim Loslösungsprozess.
Und sie fordern nützliche Fragen heraus: Was steckt hinter meiner Wut? War mein Partner so wichtig für mein Selbstwertgefühl und für mein Lebenskonzept, dass ich mich abhängig von ihm gemacht habe? „Das Scheitern von Beziehungen hängt vor allem mit unrealistischen Selbsteinschätzungen, utopischen Erwartungen an den anderen zusammen und der persönlichen psychischen und existentiellen Begrenztheit. Unerfüllte Sehnsüchte überfordern uns und den anderen“, schreibt der Münchner Familientherapeut Hans Jellouschek.

Orientierung an Ressourcen

Diese Innenschau berührt Einstellungen und Muster, die uns seit der Kindheit begleiten. Angst vor dem Verlassenwerden, Minderwertigkeitsgefühle, Versagensängste angesichts elterlicher Erwartungen und kommen wieder hoch. Schuldgefühle und Selbstzweifel umzingeln uns, weil wir uns vielleicht zu stark an den (vermeintlichen) Erwartungen anderer messen. Wir übersehen dabei leicht, dass wir in unserer Entwicklung zum Erwachsenen auch eine Vielfalt von Fähigkeiten und Stärken erworben haben. Die Orientierung an diesen Ressourcen, an dem, was wir bisher in unserem Leben gelernt und erfahren haben, erleichtert uns ein Annehmen dieser vielfältigen intensiven Gefühle. Wir beginnen, den tieferen Sinn unserer Emotionen zu verstehen, und finden uns bereit, die Verantwortung für unser weiteres Handeln zu übernehmen. Wir erkennen die Verflochtenheit zwischen dem Vergangenen, warum wir so geworden sind, der aktuellen Situation und den gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen unseres Umfeldes. Wir erweitern unsere Selbstwahrnehmung zu einer ganzheitlichen Sicht.
Bei der Bewältigung des Alltags helfen uns ein paar ganz praktische Fragen: Was tut mir gut? Welche Aktivitäten machen mir Freude? Was möchte ich schon lange einmal ausprobieren? Wie kann ich meine Wut abbauen, ohne dass ich den (Ex-)Partner damit konfrontieren muss? Körperliche Aktivitäten wie Sport bieten sich dazu an, gelegentlich vielleicht auch einfach lautes Schreien im Auto. Viele haben heilsame Erfahrungen mit dem Schreiben eines Tagebuchs gemacht oder mit „ungeschminkten“ Briefen, die sie dann absichtlich nicht abschickten.

Loslassen heißt nicht vergessen

Sinnvoll ist auch der Versuch, unsere Gefühlen zu begrenzen, ihnen also einen festen Rahmen zuzuweisen: Wollen wir uns wirklich am Arbeitsplatz damit beschäftigen? Welche Zeiten bieten sich dafür an, sie auszuleben?

Der Tagesablauf erhält mehr Struktur, wenn wir Listen anlegen für Dringendes und Unerledigtes – und uns für alles Erledigte belohnen, indem wir uns etwas gönnen. Erinnerungsstücke in der Wohnung, bei deren Anblick uns Gefühle übermannen, können wir zumindest eine Zeit lang in Kisten verstauen.

Befreiung aus der Gebundenheit in Schuldzuweisungen

Wenn wir diese Phase überwunden haben, halten wir den Schlüssel zum Loslassen in der Hand. Wir erkennen das zum Beispiel daran, dass die Gedanken an den Partner immer seltener werden. Loslassen heißt aber nicht Vergessen; viel mehr hilft uns eine differenzierte Wahrnehmung von guten und unangenehmen Erinnerungen. Schließlich wird die Trennung akzeptiert; das ist auch die unersetzliche Voraussetzung dafür, vergeben und verzeihen zu können. Die Fähigkeit dazu ist in erster Linie ein Baustein für den eigenen Neubeginn, eine Befreiung aus der Gebundenheit in Schuldzuweisungen. Solange wir den Ex-Partner verurteilen, machen wir ihn für unsere eigenen Gefühle verantwortlich – und setzen damit ungewollt die Abhängigkeit von ihm unter anderen Vorzeichen fort. Verzeihen müssen wir also vor allem, damit wir selbst für eine vollständige Heilung offen sind.

In der nächsten Phase beginnen wir uns allmählich neu zu orientieren. Für den Aufbau unseres Selbstwertgefühls ist es wichtig, dass wir uns selbst annehmen, uns als liebenswert betrachten können. Jetzt ist es an der Zeit, Frieden zu schließen – auch aus der Einsicht heraus, dass wohl beide Partner ihr Bestmögliches in die vergangene Beziehung eingebracht hatten, wozu sie aufgrund ihrer Lebensgeschichte fähig waren. Und: Möglicherweise haben ja auch die schwierigen und belastenden Erfahrungen unsere persönliche Entwicklung vorangebracht.

Endlich können wir jetzt ein neues Lebenskonzept aufbauen, uns aktiv auf neue Zielvorstellungen konzentrieren, sie in entsprechende Handlungen umsetzen. Wir sind am Ende unseres Abschiedsprozesses angelangt, ein Neuanfang scheint möglich. Wie Karlheinz Geißler in seinem Buch „Schlusssituationen“ formuliert hat: „Wer am Ende ist, kann von vorn anfangen, denn das Ende ist der Anfang von der anderen Seite.“

Gisela Schmidt